"Sie essen ihre Verwandten mit
Bananensuppe"
Kreuzer, Januar 2000
Dass Kannibalen und europäische Philosophen
durchaus ähnliche Dinge antreibt, berichtete Professor Tullio Maranhao,
55, in seiner Antrittsvorlesung vor Leipziger Studenten. Der Kulturwissenschaftler
unterrichtet gewöhnlich an der Universität von St. Paul in
Minnesota/USA. In diesem Semester ist er in Leipzig als Leibniz-Gastprofessor
beschäftigt. Am Telefon wollte Maranhao dem KREUZER zuerst nicht
so viel über Kannibalen erzählen - schließlich wäre
der gerade im Büro anwesende Besucher leicht pikiert gewesen. Im
Interview aber zeigte sich der Kannibalenforscher dann als sehr aufgeräumter,
flexibler Denker.
KREUZER: Herr Professor, 1998 hat der russische
Künstler Jurij Schabelnikow eine gigantische Buttercreme-Torte
kreiert, die aussah wie der tote Lenin. Beim Tortenanstich waren selbst
"eingefleischte" Anti-Kommunisten geschockt von dieser Art
Kannibalismus. Doch Lenin war ja nur eine Torte. Gibt es irgendwelche
Anhaltspunkte für echten Kannibalimus?
Maranhao: Oh ja! Dieser Autor hier (deutet auf ein Buch) ist verantwortlich
für die Behauptung, Kannibalismus sei nur eine Erfindung. Das ist
falsch! Ich habe zwar noch nie an einem Bankett der Kannibalen teilgenommen,
aber viele meiner Studenten und Kollegen haben so ein Mahl schon einmal
mit eigenen Augen erlebt. Allerdings ist Kannibalismus heutzutage nicht
mehr so weit verbreitet wie noch im 16. Jahrhundert. Die Kolonialherren
haben die Stämme so zerschlagen, dass die Vorstellung vom Fleischessen
vielerorts nur noch Teil süddamerikanischer Mythologie ist. Aber
viele praktizieren es auch noch. Darüber hinaus gibt es andere
Formen des Kannibalismus: die Yanomami zum Beispiel essen bei Begräbnissen
die Knochen iher Verwandten mit Bananensuppe.
KREUZER: Ah ja. Gehört diese Tradition zur Alltagskultur des durchschnittlichen
Indianers?
Maranhao: Nur bei Begräbnissen von sehr wichtigen Leuten, aus der
Sicht der jeweiligen Familie oder Sippe. Das kann zum Beispiel eine
in der Gruppe sehr beliebte, tote Großmutter sein.
KREUZER: In einem Buch vertreten Sie die These, Kannibalen und europäische
Philosophen hätten vieles gemeinsam. Durch den Verzehr von Menschenfleisch
würden sich Amazonas-Indianer ähnliche Sinnfragen stellen
wie Sartre oder Heidegger: Was ist der Mensch? Und wer bin ich? Klingt
provokativ...
Maranhao: Ich liebe ja die Provokation. Die Kritiker werfen der Existential-Philosophie
werfen vor, dass sie neben dem Ego keinen Platz läßt für
den Anderen. Der Andere ist danach nur gut, sofern man selbst auch gut
ist. Das bezeichnen viele als eine egoistische Philosophie. Die Indianer
haben nun genau das gleiche Problem: Sie leben da allein im Urwald und
stellen die gleiche selbstzentrierte Frage nach dem Dasein. Wer bin
ich? Was bedeutet es Indianer zu sein? Diese Frage kann man nur beantworten,
wenn man entdeckt, wer der andere ist.
KREUZER: Und um "die anderen" zu entdecken, müssen die
Indianer sich gegenseitig verspeisen?
Maranhao: Nicht ganz. Den anderen verstehen zu wollen ist gleich bedeutend
mit dem Wunsch, ihn zu "kannibalisieren". Die Indianer fragen
sich: wer sind meine Feinde? Für die Indianer gibt es keinen zufälligen
Tod, vielmehr hat alles hat seine Ursache. Wenn also eine Frau stirbt,
dann war feindlicher böser Zauber die Ursache für den Tod.
Daraus folgern sie dann: wenn ich die bad guys töten könnte,
könnte ich selbst ewig leben! Sehen Sie nur das Beispiel Tschetschenien:
die Russen denken, wenn sie nur alle Terroristen getötet haben,
wird es keine mehr geben. Natürlich stimmt das nicht!
KREUZER: Aber warum sollte man den Gegner essen?
Maranhao: Wir cosmopolitans essen den anderen nicht, wir beschäftigen
uns mit diesen Fragen auf anderem Wege. Die Philosphen zum Beispiel,
indem sie schreiben und Vorlesungen halten. Die Indianer hingegen haben
nicht einmal ein Wort für "Kannibalismus". Sie beziehen
sich auf diese Bedeutung mit dem Begriff "Absorption". Sie
glauben, dass sexuelles Handeln eine Art "Kannibalismus" ist,
weil der Mann in diesem Akt die Frau "aufißt". Und die
Frauen "essen" den männlichen Samen.
KREUZER: Die Verspeisung des Lenin aus Buttercreme - halten Sie das
auch für Kannibalismus?
Maranhao: Nein, weil es davon abhängig, wie man es tut. Nehmen
Sie nur das Abendmahl in der katholischen Kirche. In dieser Zeremonie
ißt man das Brot als Leib und man trinkt Wein als Blut Christi.
Sie könnten das jetzt symbolischen Kannibalismus nennen, aber nachdem
diese Zeremonie hochgradig ritualisiert und bedeutungslos ist, können
Sie die Besucher des sonntäglichen Gottesdienstes kaum Kannibalen
nennen. Das ist anders bei den Jägern im Urwald.
KREUZER: In Europa gibt es keine Jäger mehr. Wo sehen Sie dennoch
Ähnlichkeiten zwischen Europäern und Indianern?
Maranhao: Um das herauszufinden, müssen wir nicht bis zu den Jägern
gehen. Denken Sie nur an Sartres Philosophie "self another"
(les regards): Wenn es mir gelingt, dich zu betrachten, ohne von dir
dabei beobachtet zu werden, habe ich dich aus deinem Bewußtsein
geraubt. Das ist visueller Kannibalismus. Das ist absolut identisch
mit dem Denken der Amazonas-Indianer.
KREUZER: Sie haben sogar noch mehr Ähnlichkeiten zwischen Kannibalen
und Europäern gefunden. Ein Indianerstamm, die Tupi-Guarani, glaubt
an ein utopisches Reich jenseits des Bösen, vergleichbar mit dem
abendländischen "Paradies". Darin gibt es freien Sex,
Freizeit, keinen Tod und Bier im Überfluß. Besonders letzteres
wird vielen Ihrer deutschen Studenten gefallen...
Maranhao: Das ist zu oberflächlich. Ich will zu den grundlegenden
Fragen westlicher Zivilisation vorstoßen. Ich glaube, dass weder
wir noch die amerikanischen Indianer die Antwort gefunden haben. Darum
sind wir so ein bißchen verzweifelt in einer Welt der Gewalt und
der Umweltzerstörung.
KREUZER: Aber ist es nicht ein großer Unterschied, ob ich mein
Gegenüber durch Sex "absorbiere" oder ihn einfach aufesse?
Maranhao: Kaviar oder Kartoffeln zu essen ist ebenfalls ein großer
Unterschied. Letztlich geht es hier nur um verschiedene Prinzipien der
Diät. In der Sexualität versichern wir uns unsere Identität
und sprechen von Lust und Liebe. Aber natürlich ähnelt dieses
Erlebnis auch wieder dem Austausch von Blut und Fleisch, der im Urwald
stattfindet.
KREUZER: Wie sind Sie auf die Amazonas-Indianer gekommen?
Maranhao: Ich habe mich immer schon intensiv mit südamerikanischer
Ethnographie beschäftigt -ich selbst bin ja gebürtiger Brasilianer.
1990 habe ich dann festgestellt, dass es einen Bezug zwischen meinem
philosphischen Interesse und diesen Verhaltensweisen gibt. Schauen Sie
etwa auf Peter Greenaway's Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau
und ihr Liebhaber". Erneut geht es um die gleiche Sache: sich das
Wesen des anderen "einzuverleiben", das einem selbst fehlt.
KREUZER: Wie ist die Reaktion der Kollegen auf ihre kühnen Thesen?
Maranhao: Ich gelte hier keineswegs als "der Kannibale" (lacht).
Aber Philosophen haben es gewöhnlich nicht gern, wenn man ihre
großen Denker mit irgendwelchen Indianern in einen Topf steckt.
KREUZER: Können Sie ein aktuelles Beispiel von Kannibalismus beschreiben?
Maranhao: Sicher. Da gibt es die Indianer-Gruppe der "Arawaté",
die immer noch im Amazonasgebiet lebt. In den vielen Scharmützeln
geht es dort meistens um Heirat, also Frauen. Die Kämpfe sind sehr
ritueller Art: eine Gruppe kämpft gegen die andere, und kommt mit
einem Stück gegnerischen Menschenfleisches zurück. Dann kochen
sie es und essen es. Das ganze ist aber nicht wie eine normale Mahlzeit,
sondern eine sehr zeremonielle Angelegenheit.
KREUZER: Akzeptieren die Behörden das denn?
Maranhao: Nein. Für uns Anthropologen ist es gefährlich, zu
viel darüber zu sprechen, weil es nur die Aufmerksamkeit der Behörden
erregen würde. Die warten doch alle nur darauf, tiefer und tiefer
in den Urwald vorzudringen, um alles zu kontrollieren.
KREUZER: Muß der weiße Anthropologe fürchten, irgendwann
einmal selbst im Kochtopf zu landen?
Maranhao: Nein, das ist unproblematisch.
Interview und Übersetzung aus dem Amerikanischen: Daniel Sturm