Daniel Sturm
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"Sie essen ihre Verwandten mit Bananensuppe"
Kreuzer, Januar 2000

Dass Kannibalen und europäische Philosophen durchaus ähnliche Dinge antreibt, berichtete Professor Tullio Maranhao, 55, in seiner Antrittsvorlesung vor Leipziger Studenten. Der Kulturwissenschaftler unterrichtet gewöhnlich an der Universität von St. Paul in Minnesota/USA. In diesem Semester ist er in Leipzig als Leibniz-Gastprofessor beschäftigt. Am Telefon wollte Maranhao dem KREUZER zuerst nicht so viel über Kannibalen erzählen - schließlich wäre der gerade im Büro anwesende Besucher leicht pikiert gewesen. Im Interview aber zeigte sich der Kannibalenforscher dann als sehr aufgeräumter, flexibler Denker.

KREUZER: Herr Professor, 1998 hat der russische Künstler Jurij Schabelnikow eine gigantische Buttercreme-Torte kreiert, die aussah wie der tote Lenin. Beim Tortenanstich waren selbst "eingefleischte" Anti-Kommunisten geschockt von dieser Art Kannibalismus. Doch Lenin war ja nur eine Torte. Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für echten Kannibalimus?
Maranhao: Oh ja! Dieser Autor hier (deutet auf ein Buch) ist verantwortlich für die Behauptung, Kannibalismus sei nur eine Erfindung. Das ist falsch! Ich habe zwar noch nie an einem Bankett der Kannibalen teilgenommen, aber viele meiner Studenten und Kollegen haben so ein Mahl schon einmal mit eigenen Augen erlebt. Allerdings ist Kannibalismus heutzutage nicht mehr so weit verbreitet wie noch im 16. Jahrhundert. Die Kolonialherren haben die Stämme so zerschlagen, dass die Vorstellung vom Fleischessen vielerorts nur noch Teil süddamerikanischer Mythologie ist. Aber viele praktizieren es auch noch. Darüber hinaus gibt es andere Formen des Kannibalismus: die Yanomami zum Beispiel essen bei Begräbnissen die Knochen iher Verwandten mit Bananensuppe.

KREUZER: Ah ja. Gehört diese Tradition zur Alltagskultur des durchschnittlichen Indianers?
Maranhao: Nur bei Begräbnissen von sehr wichtigen Leuten, aus der Sicht der jeweiligen Familie oder Sippe. Das kann zum Beispiel eine in der Gruppe sehr beliebte, tote Großmutter sein.

KREUZER: In einem Buch vertreten Sie die These, Kannibalen und europäische Philosophen hätten vieles gemeinsam. Durch den Verzehr von Menschenfleisch würden sich Amazonas-Indianer ähnliche Sinnfragen stellen wie Sartre oder Heidegger: Was ist der Mensch? Und wer bin ich? Klingt provokativ...
Maranhao: Ich liebe ja die Provokation. Die Kritiker werfen der Existential-Philosophie werfen vor, dass sie neben dem Ego keinen Platz läßt für den Anderen. Der Andere ist danach nur gut, sofern man selbst auch gut ist. Das bezeichnen viele als eine egoistische Philosophie. Die Indianer haben nun genau das gleiche Problem: Sie leben da allein im Urwald und stellen die gleiche selbstzentrierte Frage nach dem Dasein. Wer bin ich? Was bedeutet es Indianer zu sein? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man entdeckt, wer der andere ist.

KREUZER: Und um "die anderen" zu entdecken, müssen die Indianer sich gegenseitig verspeisen?
Maranhao: Nicht ganz. Den anderen verstehen zu wollen ist gleich bedeutend mit dem Wunsch, ihn zu "kannibalisieren". Die Indianer fragen sich: wer sind meine Feinde? Für die Indianer gibt es keinen zufälligen Tod, vielmehr hat alles hat seine Ursache. Wenn also eine Frau stirbt, dann war feindlicher böser Zauber die Ursache für den Tod. Daraus folgern sie dann: wenn ich die bad guys töten könnte, könnte ich selbst ewig leben! Sehen Sie nur das Beispiel Tschetschenien: die Russen denken, wenn sie nur alle Terroristen getötet haben, wird es keine mehr geben. Natürlich stimmt das nicht!

KREUZER: Aber warum sollte man den Gegner essen?
Maranhao: Wir cosmopolitans essen den anderen nicht, wir beschäftigen uns mit diesen Fragen auf anderem Wege. Die Philosphen zum Beispiel, indem sie schreiben und Vorlesungen halten. Die Indianer hingegen haben nicht einmal ein Wort für "Kannibalismus". Sie beziehen sich auf diese Bedeutung mit dem Begriff "Absorption". Sie glauben, dass sexuelles Handeln eine Art "Kannibalismus" ist, weil der Mann in diesem Akt die Frau "aufißt". Und die Frauen "essen" den männlichen Samen.

KREUZER: Die Verspeisung des Lenin aus Buttercreme - halten Sie das auch für Kannibalismus?
Maranhao: Nein, weil es davon abhängig, wie man es tut. Nehmen Sie nur das Abendmahl in der katholischen Kirche. In dieser Zeremonie ißt man das Brot als Leib und man trinkt Wein als Blut Christi. Sie könnten das jetzt symbolischen Kannibalismus nennen, aber nachdem diese Zeremonie hochgradig ritualisiert und bedeutungslos ist, können Sie die Besucher des sonntäglichen Gottesdienstes kaum Kannibalen nennen. Das ist anders bei den Jägern im Urwald.

KREUZER: In Europa gibt es keine Jäger mehr. Wo sehen Sie dennoch Ähnlichkeiten zwischen Europäern und Indianern?
Maranhao: Um das herauszufinden, müssen wir nicht bis zu den Jägern gehen. Denken Sie nur an Sartres Philosophie "self another" (les regards): Wenn es mir gelingt, dich zu betrachten, ohne von dir dabei beobachtet zu werden, habe ich dich aus deinem Bewußtsein geraubt. Das ist visueller Kannibalismus. Das ist absolut identisch mit dem Denken der Amazonas-Indianer.

KREUZER: Sie haben sogar noch mehr Ähnlichkeiten zwischen Kannibalen und Europäern gefunden. Ein Indianerstamm, die Tupi-Guarani, glaubt an ein utopisches Reich jenseits des Bösen, vergleichbar mit dem abendländischen "Paradies". Darin gibt es freien Sex, Freizeit, keinen Tod und Bier im Überfluß. Besonders letzteres wird vielen Ihrer deutschen Studenten gefallen...
Maranhao: Das ist zu oberflächlich. Ich will zu den grundlegenden Fragen westlicher Zivilisation vorstoßen. Ich glaube, dass weder wir noch die amerikanischen Indianer die Antwort gefunden haben. Darum sind wir so ein bißchen verzweifelt in einer Welt der Gewalt und der Umweltzerstörung.

KREUZER: Aber ist es nicht ein großer Unterschied, ob ich mein Gegenüber durch Sex "absorbiere" oder ihn einfach aufesse?
Maranhao: Kaviar oder Kartoffeln zu essen ist ebenfalls ein großer Unterschied. Letztlich geht es hier nur um verschiedene Prinzipien der Diät. In der Sexualität versichern wir uns unsere Identität und sprechen von Lust und Liebe. Aber natürlich ähnelt dieses Erlebnis auch wieder dem Austausch von Blut und Fleisch, der im Urwald stattfindet.

KREUZER: Wie sind Sie auf die Amazonas-Indianer gekommen?
Maranhao: Ich habe mich immer schon intensiv mit südamerikanischer Ethnographie beschäftigt -ich selbst bin ja gebürtiger Brasilianer. 1990 habe ich dann festgestellt, dass es einen Bezug zwischen meinem philosphischen Interesse und diesen Verhaltensweisen gibt. Schauen Sie etwa auf Peter Greenaway's Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber". Erneut geht es um die gleiche Sache: sich das Wesen des anderen "einzuverleiben", das einem selbst fehlt.
KREUZER: Wie ist die Reaktion der Kollegen auf ihre kühnen Thesen?
Maranhao: Ich gelte hier keineswegs als "der Kannibale" (lacht). Aber Philosophen haben es gewöhnlich nicht gern, wenn man ihre großen Denker mit irgendwelchen Indianern in einen Topf steckt.
KREUZER: Können Sie ein aktuelles Beispiel von Kannibalismus beschreiben?
Maranhao: Sicher. Da gibt es die Indianer-Gruppe der "Arawaté", die immer noch im Amazonasgebiet lebt. In den vielen Scharmützeln geht es dort meistens um Heirat, also Frauen. Die Kämpfe sind sehr ritueller Art: eine Gruppe kämpft gegen die andere, und kommt mit einem Stück gegnerischen Menschenfleisches zurück. Dann kochen sie es und essen es. Das ganze ist aber nicht wie eine normale Mahlzeit, sondern eine sehr zeremonielle Angelegenheit.
KREUZER: Akzeptieren die Behörden das denn?
Maranhao: Nein. Für uns Anthropologen ist es gefährlich, zu viel darüber zu sprechen, weil es nur die Aufmerksamkeit der Behörden erregen würde. Die warten doch alle nur darauf, tiefer und tiefer in den Urwald vorzudringen, um alles zu kontrollieren.
KREUZER: Muß der weiße Anthropologe fürchten, irgendwann einmal selbst im Kochtopf zu landen?
Maranhao: Nein, das ist unproblematisch.

Interview und Übersetzung aus dem Amerikanischen: Daniel Sturm